Hand aufs Herz: Wer hatte seinen Kumpels vor der Saison fieberhaft prophezeien wollen, dass die Chicago Bulls nach 52 von 82 Spielen auf Platz 2 im Osten liegen? Ich nicht. Dass DeRozan in der windy City gut funktionieren kann, hatte ich mir erfolgreich selbst einreden können. Aber dass DeRozan lange Zeit in der Konversation um den MVP-Titel erwähnt wird, erschien selbst mir zu optimistisch.
Erfolgsstorys wie die der Bullen gibt es einige, ebenso jedoch die Spiegelbilder davon. Ich habe mir davon fünf (kleinere und größere) ausgesucht und etwas genauer unter die Lupe genommen – zunächst für die wiedererstarke Eastern Conference, der Westen folgt. Ganz zum Schluss gibt es dann noch die ultimative, definitive, unausweichlich richtige Prognose, wie sich die Tabelle am Ende der Regular Season darstellt. Denn sicher habe ich wertvolle Schlüsse daraus gezogen, dass ich als Kind die KICKER-Stecktabelle Jahr um Jahr vollkommen falsch geordnet habe bis das Universum mir erfolgreich beigebracht hatte, dass ich einen Scheiß über Fußball weiß. Zumindest war damit klar, dass ich kein Hellseher werde … Aber ich schweife ab.
Franz Wagner: Rollenspieler?
Aus rein egoistischen Gründen wähle ich an dieser Stelle einen Deutschland-zentrierten Ansatz (was der Welt bekanntlicherweise noch nie geschadet hat) und nominiere NBA-Neuling Franz Wagner als eine der großen Rookie-Überraschungen der Saison. Das ist auch für Zuschauer ersichtlich, die keine schwarz-rot-goldene Brille tragen. Denn der 20-Jährige, gedraftet als etwas langweiliges Schweizer Taschenmesser in Offensive und Defensive, ist brandheiß aus den Startlöchern gekommen und straft Kritiker lügen, die ihn deutlich später im Draft ausgewählt hätten als es die Orlando Magic an achter Stelle getan haben. Ein breites Arsenal an offensiven Moves, gute Defense gegen gestandene NBA-Spieler, ein 38-Punkte-Spiel gegen den amtierenden Titelträger und ein krachender Dunk gegen das halbe Timberwolves-Team – es wundert nicht, dass Wagner Dauergast in den Top 5 des Rookie-Rankings ist.
Doch Wagner taucht nicht nur auf, um sich auf Postern zu verewigen. Der 20-Jährige macht viele von den nicht ganz so glamourösen Dingen richtig, die die Magic beim Draft von ihm als Rollenspieler sicher erwartet hatten: Er trifft den Dreier mit 35% okay genug, dass gegnerische Verteidigungen ihn respektieren müssen und das Feld so breiter für seine Mitspieler wird. Auch seine Defensive scheint den Umstieg vom College in die Profiliga ohne große Abstriche überstanden zu haben: Er verteidigt gut und flexibel, unter anderem kleine und große Aufbauspieler wie Trae Young oder Luka Dončić, schlaksige Jumpshooter wie Khris Middleton oder athletische Flügelspieler wie Miles Bridges. Gut koordiniert setzt er seine schnellen Füße und bewegliche Hüfte vor allem ein, um bei Drives erfolgreich den Weg zum Korb zu versperren.
Auch beim Spiel abseits des Balles, vor allem in der Offensive, konnte man sich verhältnismäßig sicher sein, dass die Fähigkeiten des Berliners auch in der NBA einsetzbar sind: Regelmäßig nutzt Wagner die Unaufmerksamkeit seiner Gegenspieler für Cuts zum Korb, wie hier zuletzt gegen die Pacers. 76% seiner Cuts schließt der Rookie erfolgreich ab – bei Spielern mit mindestens einem Cut pro Spiel, ist das ein fantastischer siebtbester Wert der Liga.
Soviel zu den (sehr gut erfüllten) Grundanforderungen an einen modernen 3&D-Spieler: Den Dreier treffen, Defense spielen und sich, wenn man vorne wenig vom Ballbesitz sieht, trotzdem gut bewegen. Erhofft hatten sich die Verantwortlichen in Orlando aber sicher auch, dass Wagner die guten Ansätze aus zwei Jahren an der University of Michigan bestätigt, wenn er den Ball dann doch länger als zum Fangen-und-Werfen in den Händen hält. Das sekundäre Playmaking – also den Aufbauspieler zu entlasten und eigene Würfe oder die von Mitspielern zu kreieren – blitzte in Michigan schon auf, vor allem beim Dirigieren des Pick’n’Rolls. Es ist jedoch schwer zu glauben, dass man in Florida darauf vorbereitet war, dass Wagner so schnell so gut in der Rolle als Ballführender funktioniert. Der 20-Jährige nutzt seine Größe, sein Spielverständnis und sein Gefühl für das richtige Timing, um gefühlt immer die richtige Entscheidung zu treffen. Er verzögert seinen Zug zum Korb, um seinem rollenden Mitspieler mehr Momentum zu verschaffen, er driftet etwas zur Seite, um den Gegenspieler seines Teamkameraden rauszulocken, er erkennt, wann ein Gegenspieler eine falsche Entscheidung getroffen hat und schmeißt dabei No-Look-Pässe, Wraparounds und Alley-Oops.
Wagners Geduld, Gedankenschnelle und Fähigkeit, Gegenspieler mit kleineren Bewegungen aus dem Rhythmus zu bringen oder zu einer Entscheidung zu zwingen sind bemerkenswert. Im unteren Video liest er im ersten Clip blitzschnell die unsortierte Situation der Raptors-Defense und nutzt sie aus. Die zwei weiteren Clips zeigen zwei Sets, die die Magic mittlerweile öfter für den Rookie laufen lassen: Zunächst Wagner als (angetäuschten) Blocksteller im Horns-Set, bei dem der zweite Big oben an der Glocke für ihn einen Flare-Screen stellt. Oft resultiert das entweder in einem freien Wurf für Wagner oder er sieht soviel Land vor sich, dass er zum Korb ziehen kann. Doch auch, wenn die Aktion gut verteidigt wird, findet Wagner – wie hier – eine Lösung. Im letzten Clip rennt er aus der Ecke in ein Dribble-Handoff und bekommt dafür von zwei Teamkollegen einen Stagger-Screen. Das resultiert in einer Drei-gegen-Zwei-Situation, in der Wagner als Ballführender alle Möglichkeiten hat und weiß, dass die Unterzahl-Verteidiger früher oder später zu einer Entscheidung gezwungen sind – in diesem Fall hilft der Rookie mit einem perfekt eingesetzten Headfake bei der Entscheidungsfreude ordentlich mit.
Das alles funktioniert vor allem deswegen so gut, weil Wagner selbst beim Zug zum Korb eine enorme Gefahr ausstrahlt. Durchaus überraschend, nachdem ein Großteil der Scouting-Berichte den Deutschen vor allem beim Kreieren des eigenen Wurfes defizitär gesehen haben. Doch Wagner zeigt eine bemerkenswerte Aggressivität, wenn er den Ball an der Dreierlinie fängt und sein Gegenspieler vielleicht zu sehr auf einen direkt Wurf spekuliert hat. Einmal in der Zone, nutzt Wagner so ziemlich alle Tricks, die man so im Rucksack haben kann: Er nimmt das Tempo wieder raus und lässt den Gegenspieler von hinten auflaufen, er zieht nochmal an und geht mit Riesenschritten am Korbverteidiger vorbei, er setzt in der Zone zum Floater an, er tanzt mit dem Eurostep um die Defense herum, er täuscht an, er legt den Ball übers Brett rein, er dunkt. Dabei ist er dynamisch und koordiniert genug für den Eurostep aber besitzt auch die Physis dafür, dass Verteidiger seinen Abschlussversuch oft nicht entscheidend beeinflussen können.
Ein 2,08-Meter-Mann, der werfen, ziehen und passen kann … Das klingt schon fast nicht mehr nach dem Rollenspieler-Prädikat, das Wagner im Vorfeld des Draftes aufgestempelt bekommen hat. Ob er diese Decke durchbricht und nach oben Richtung Starspielerstatus klettert, liegt vor allem an seinem Sprungwurf. Dabei geht es weniger um das Fangen-und-Werfen (Wagner trifft davon gute 38,1% jenseits der Dreierlinie) und mehr um die Würfe aus dem Dribble heraus. Ohne die Gefahr, dass der deutsche Flügelspieler im Eins-gegen-Eins hochsteigt und wirft, nach dem Handoff direkt abdrückt oder im Pick-and-Roll aus der Mitteldistanz wirft, wird es für Teams deutlich einfacher, Wagner zu verteidigen, weil ihm im Prinzip “nur” der Zug zum Korb bleibt. Aber positiv gedacht: Entwickelt der Berliner auch diese Facette seines Handwerks, fällt es leicht sich vorzustellen, wie er jedem Spiel seinen Stempel aufdrücken kann. Wagner jedenfalls scheint gefallen daran zu gewinnen, Erwartungen zu übertreffen und Kritiker Lügen zu strafen.
Quo vadis, Pacers?
Es fühlt sich komisch an, sowas über eine Franchise zu sagen, die so untrennbar mit (personifizierten) Basketball-Ausrufezeichen wie Reggie Miller, Jermaine O’Neal, Paul George und der Gesamtheit von Malice at the Palace verknüpft ist, aber: Die Pacers sind in ihrer aktuellen Form ein bisschen so etwas wie die graue Maus der NBA. Seit Paul Georges Rookie-Saison 2010/11 verpassten die Pacers nur zwei Mal die Playoffs. Für die Finals reichte es jedoch nie und allein von 2016 bis 2020 scheiterte man sogar fünf Mal in Folge bereits in der ersten Runde. Auch in diesem Jahr hatte man wieder eine erfolgsversprechende Kombination aus Talent, Skill und Erfahrung im Kader – doch irgendwas summt in Indianapolis die falsche Harmonie.
Symptomatisch dafür steht wohl der Frontcourt mit Domantas Sabonis und Myles Turner, zwei fantastischen Spieler mit (All-)Starpotenzial, die nie wirklich den gemeinsamen Rhythmus gefunden haben. Klar, das liegt auch daran, dass die Pacers aufgrund von Verletzungen (besonders: Dauerpatient TJ Warren und professioneller Taschendieb TJ McConnell) nie wirklich die volle Stärke ihres Kaders zur Verfügung hatten. Hinzu kommen der bis zu diesem Zeitpunkt zweitschwerste Spielplan der Liga und einige unglückliche knappe Niederlagen … Man braucht nicht viel Phantasie um sich eine alternative Realität vorzustellen, in der die Pacers zumindest mittendrin sind im Rennen um die Play-In-Plätze 10 und 9.
Die bittere Wahrheit ist jedoch: Aktuell steht man auf einem enttäuschenden 13. Platz im Osten – satte sieben Spiele hinter den Atlanta Hawks auf Rang 10. Und vielleicht ist es keine mysteriöse Dissonanz, die die Pacers davon abhält, ihr volles Potenzial zu entfalten, sondern eine handvoll weiterer bitterer Wahrheiten: Man stellt eine der schlechtesten Verteidigungen der Liga, man forciert keine Ballverluste beim Gegner, kommt so nicht zu schnellen Punkten im Tempogegenstoß und zu allem Überfluss schenkt man dem Kontrahenten im Gegenzug noch zu häufig die einfachsten Punkte des Spiels an der Freiwurflinie. Da auch Neu-Trainer und Coaching-Legende Rick Carlisle, um dieses Orchester in Einklang zu bringen, eher einen Zauberstab statt eines Taktstocks bräuchte, stehen alle Zeichen auf Umbruch.
Wie groß der ausfällt, ist fraglich. Unter anderem, weil Besitzer Herb Simon noch vor zwei Monaten unterstrich, wie wenig er vom mittlerweile gängigen Tanking hält (also der Praktik, sein Team absichtlich mangelhaft zu konstruieren, um nach einer Saison voller Niederlagen im Draft bessere Chancen zu haben, das nächste Supertalent zu ziehen). Als sicher gilt, dass man den Sabonis-Turner-Frontcourt aufbricht, vielleicht sogar beide abgibt. Dann geht es möglicherweise in einen vollen Rebuild, bei dem man versucht, den aktuellen Kader in jüngere Spieler und Draftpicks umzuwandeln. Das Interesse der Kontrahenten dürfte sich neben der beiden genannten Big Men vor allem auf Caris LeVert [Ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes bereits zu den Cleveland Cavaliers transferiert worden] und Malcolm Brogdon konzentrieren, wobei ihnen aufgrund verschiedener Vorbehalte keiner gierig aus den Händen gerissen wird. Weniger spektakulär aber deutlich einfacher würde sich ein Trade von Rollenspieler Justin Holiday darstellen. Der 32-Jährige passt mit guter Defense, einem sicheren Dreipunktewurf und einem preiswerten Vertrag gut zu jedem Team, das noch produktive Verstärkung für die Playoffs sucht.
Sicher bleiben wird der Rookie-Lichtblick dieser Saison Chris Duarte sowie sein Neulingskollege Isaiah Jackson, der als Energy-Big vor allem in den letzten zwei Wochen ordentlich Lärm gemacht hat. Viel hängt von der aktuellen Tradephase ab, die bekanntermaßen vor der Deadline (10. Feb) nochmal ordentlich Fahrt aufnimmt, doch der Weg zurück in die Post-Season scheint steinig zu werden für die Pacers. Vom langweiligen Playoff-Team zum langweiligen Keller-Team – das hat wenigstens den Vorteil, dass man im 2022er Draft Aufsehen erregen kann.
Miamis Malocher-Mentalität
Während sich die mysteriöse negative Energie in Indianapolis in bester Scooby-Doo-Manier am Schluss doch als banale Defensivschwäche herausstellt, treibt in Miami die mystische #HeatCulture ihre Blüten. Die Geschichte ist schnell erzählt: Miami ist von Verletzungen geplagt, Neuzugang Kyle Lowry fehlte bisher 13 Mal, Superstar Jimmy Butler 22 Mal und Defensivmonster Bam Adebayo sogar 25 Mal. Nur 257 Minuten stand dieses Trio gemeinsam auf dem Platz (10% der Gesamtminuten). Zum Vergleich ein Blick ins ebenfalls gebeutelte Chicago: DeRozan, Lavine und Vučević schafften es dort 684 Minuten zusammen aufs Spielfeld (28,5% der Gesamtzeit). Die Heat schickten in diesen Minuten statt Lowry, Butler und Adebayo etwas weniger klangvolle Namen wie Max Strus, Gabe Vincent und Omer Yurtseven aufs Parkett. Und trotzdem belegt Miami Rang 1 im Osten, getragen von etlichen, durch die #HeatCulture inspirierten Reservekräften, die zuvor nie wirklich mit beiden Beinen im NBA-Alltag angekommen sind.
Besagte “Heat Culture”, die Miami an diesen Punkt geführt hat, ist dabei nur der einprägsame Platzhalter für eine Vielzahl von positiven Faktoren, die sich vielleicht etwas griffiger mit den Worten Mentalität und Führungsstärke zusammenfassen lassen. Doch wie beim langweiligen Büro-Arbeitsplatz funktioniert das nur, wenn die Führungsetage das vor- und mitlebt – in diesem Fall der Trainerstab. Dass die in ihren jeweiligen Drafts unbeachteten Vincent, Strus und Yurtseven produktive Minuten spielen können, liegt nicht zuletzt an den Trainern, die in Miami für die Spielerentwicklung zuständig sind. Schon Bam Adebayo, der in Florida vom Rohdiamten zu einem der besten Verteidiger der Liga gereift ist, spürte den Einfluss: ““The thing about being here is everyone cares; they’ll do anything to help you improve“, erzählte er schon 2020 dem Bleacher Report. Als konkretes Beispiel nannte er explizit die Spielerentwicklung: „They’re willing to sacrifice sleep, give up days off and time with their families – all to come and help you. That really stands out.“
Darauf angesprochen unterstützt und erweitert Head Coach Erik Spoelstradiese Komplimente: Die Mentalität ginge zuallerst von Heat-Präsident Pat Riley aus, der als Spieler selbst jeden Tag schufften musste, um in der Liga zu bleiben. Das Scouting-Team mache hervorragende Arbeit und fände Spieler, die ins exakt ins anspruchsvolle Heat-Profil passen. Und Spieler wie Vincent seien das Herzblut des Entwicklungsprogramms, ungedraftet, bereit gewohnte Rollen und Instinkte aufzugeben und die mit einer “crazy work ethic” jeden Tag kämpfen und sich weiterzentwickeln. (Zitate aus: PK 18. Dez; PK 25. Jan) Auch Tyler Herro bestätigt die positive Entwicklung, die er bereits in der Pre-Season angedeutet hatte: Dem 22-Jährigen ist eine neue Zielstrebigkeit anzumerken, er nimmt mehr Würfe, initiiert mehr Pick-and-Rolls, findet öfter die Mitspieler und kommt selbst häufiger an die Freiwurflinie. Das könnte am Ende sogar für den Titel „6th Man of the Year“ reichen und wäre neben der Würdigung für Herros individuelle Maloche auch ein Kompliment für das Spielerentwicklungs-Team.
Doch auch Coach Spo scheint mit bestem Beispiel voranzugehen: Adebayo lobte seine Hands-On-Mentalität, dass er jederzeit in eine Trainingsübung mit reinspringe und wie sehr er den Spielern vermittle, dass er ihre tägliche Fleißarbeit schätze, selbst wenn sie, wie Omer Yurtseven etwa nach der Rückkehr der Stammkräfte, aus der Aufstellung fallen. Das scheint jedoch nicht nur bei den jungen Spielern zu fruchten: PJ Tucker spielt in seiner elften NBA-Saison mit den besten Basketball seiner Karriere, unter anderem weil Erik Spoelstra dem ungekrönten Ecken-Dreier-König der Liga in der Offensive mehr zutraut, ihn auch mal Würfe nehmen lässt, die nur zwei Punkte wert sind und ihn mehr ins Aufbauspiel miteinbezieht. Dass in diesem organisationsweiten Mental-Grind auch die Führungsspieler um Jimmy Butler mitziehen und das Ego hinten anstellen, erscheint da schon fast selbstverständlich, sollte aber trotzdem erwähnt werden.
Das alles verspricht einiges für die Playoffs, wenn der Kopf genauso wichtig wird wie die Beine und die Rollenspieler Tage und Wochen bereit sein müssen, nur um ein einziges Mal der Überraschungsfaktor in Spiel 3 im Conference-Halbfinale zu sein. Bisher scheint es aber, als würden genau diese Rollenspieler die Heat zum Heimvorteil in der Post-Season führen.
Turbulenzen für die Hawks
Auf den Boden der Tatsachen kamen die Hawks aus Atlanta in dieser Saison zurück. Die Falken setzten 20/21 zum Höhenflug an, nachdem sie noch ein Jahr zuvor nur 20 ihrer 67 Spiele gewonnen hatten und stürmten mit dem jungen Superstar Trae Young bis ins Ost-Finale, in dem man sich dem späteren Titelträger 2:4 geschlagen geben musste. Auf die Playoff-Feier folgte jedoch der Kater: Aktuell steht man mit einer negativen Ergebnisbilanz (25 Siege, 28 Niederlagen) nur auf Platz 10 im Osten – immerhin der letzte der neuen Play-In-Plätze. Der Übeltäter scheint beim Blick in die allwissenden Advanced Stats schnell gefunden: Die Hawks kassieren laut “Cleaning the Glass”, die Statistiken aus der Garbage Time rausfiltern, durchschnittlich 114 Punkte – die viertschlechteste Defensive der Liga.
Doch die Statistiken sind durch Verletzungen und Corona-Ausfälle verzerrt und besonders die Hawks hat es arg getroffen. Scharfschütze Kevin Huerter fehlte 7 Spiele, Center Clint Capela 8 Spiele, wichtige Impulse von der Bank fehlten mit Danilo Gallinari (10 Spiele) und Lou Williams (15 Spiele), das Playmaking leidete ohne Bogdan Bogdanović (18 Spiele) und Defensivspezialist De’Andre Hunter fehlte nach einer Operation am rechten Handgelenk sogar 28 Spiele. Und so lohnt sich ein genauerer Blick auf die Saison der Hawks.
Etwa auf eine Phase im November, in der man über zwei Wochen einen Großteil des Kaders zur Verfügung hatte. Sieben Siege am Stück holte Atlanta mit der Startaufstellung Young – Huerter – Bogdanović – Collins – Capela, bevor Bogi erneut ausfiel. Am Ende verlor man das achte Spiel gegen die New York Knicks – hauptsächlich, weil man nur 9 der 37 Dreipunktewürfe traf. Dieses Lineup ist nach wie vor eines der erfolgreichsten der ganzen Liga: In 153 gespielten Minuten erzielte man auf (die pro Spiel etwa stattfindenden) 100 Ballbesitzphasen gerechnet 30 (!) Punkte mehr als der Gegner. Als Startaufstellung standen diese Spieler in dieser Saison nie wieder auf dem Court.
Doch seit etwa zwei Wochen haben die Hawks den Großteil ihrer Schäfchen wieder zusammen, bringen Bogdanović jetzt von der Bank und lassen Hunter als wichtiges Rädchen im Defensivsystem starten. In diesen zwei Wochen gewann Atlanta acht seiner neun Spiele – zuletzt ein Ausrufezeichen-Sieg gegen den zuvor elf Spiele ungeschlagenen Liga-Primus, die Phonix Suns. Die Hawks schickten den Großteil des dritten Viertels Bogdanović für Hunter aufs Parkett und konnten sich in dieser Phase in einem knappen Spiel entscheidend absetzen. Gut, man traf die Dreier so gut, dass es nicht ratsam erscheint, sich jede Nacht darauf zu verlassen. Doch das zeigt eher, dass aktuell vieles nötig ist, um die Suns zu schlagen.
Überraschungstechnisch bereiten sich die Atlanta Hawks in dieser Saison also auf die Achterbahn vor: Der enttäuschende Start (bei dem man zugegebenermaßen weitestgehend alle Spieler zur Verfügung hatte) sorgte definitiv für hochgezogene Augenbrauen. Doch alle, die das Team um Trae Young für 21/22 bereits abgeschrieben haben, werden höchstwahrscheinlich noch vom nächsten Höhenflug überrascht.
Mobley-Balance in Cleveland
Die größte Überraschung im Osten sind jedoch definitiv die Cleveland Cavaliers. Nach einer desaströsen vergangenen Saison, in der man sich in nahezu jeder wichtigen Statistik am Ende des Ligavergleichs wiederfand, passierte in der Off-Season eigentlich zu wenig, um die gewaltigen Fragezeichen auszuräumen: Coach Bickerstaff blieb, der sichtbar unzufriedene Kevin Love blieb, der defensiv-minderbemittelte Backcourt mit Sexton und Garland blieb. Dass man Larry Nance Jr. abgab, um Lauri Markkanen zu verpflichten, wurde eher als Cha-Cha-Step gesehen denn als großer Sprung nach vorne.
Nun, es stellt sich heraus, dass man keine großen Neuverpflichtungen braucht, wenn man richtig draftet: An dritter Stelle wählten die Cavs mit Evan Mobley einen athletischen, hyper-mobilen 7-Footer (2,13m), der – so die Vision – in den kommenden Jahren überall auf dem Court hervorragend verteidigen kann und im Angriff gut genug aus der Distanz wirft, um dem eher traditionell-spielenden Center Jarrett Allen nicht den Platz unterm Korb wegzunehmen. Quasi als Basketball-Avatar sollte er in Cleveland die unbalancierten Elemente (Offense und Defense) ins Gleichgewicht bringen. Das gelingt dem 20-Jährigen schon jetzt so gut, dass es niemanden verwundern würde, wenn er zum nächsten Spiel auf einem fliegenden Bison anreist. Gut, der Wurf des Rookies fällt noch nicht, doch Mobley ist in der Offensive umtriebig genug – mit Drives, Isos, Post-Ups – um die Aufmerksamkeit der Verteidiger zu binden, Räume für seine Mitspieler zu schaffen und diese mit guten Pässen in Szene zu setzen.
Doch noch viel größer ist sein Einfluss auf die Defensive der Cavaliers: Eingesetzt wird Mobley in einer Giannis-ähnlichen Rolle, einer Art Basketball-Feuerwehrmann. Coach Bickerstaff weist ihm bei defensiven Ballbesitzphasen meistens eine eher stationäre Stretch-4 zu (also ein Big Man, der sich an der Dreierlinie aufhält und meist weniger ins Passspiel seiner Mannschaft eingebunden ist). Das gibt Mobley die Möglichkeit, näher am Korb zu patrouillieren und etwaige Feuer zu löschen, die bei den Teamkollegen entstehen – Hilfe bei Mismatches, Hilfe bei Attacken auf den Korb oder das kurzzeitige Schließen von Passrouten. Möglich ist das nur, weil Mobley (wie Giannis) die Mobilität und Länge besitzt, um nach der Hilfe innen auch noch rechtzeitig den Dreipunktewurf seines eigentlichen Gegenspielers zu stören oder sogar zu unterbinden.
Mobley besticht in dieser verantwortungsschweren Rolle mit einer Mischung aus Athletik, Basketball-IQ und Ruhe, die für einen 20-jährigen Rookie geradezu unverschämt erscheint, wie vor allem der letzte Clip des Videos zeigt: Mobley tagged erst Jrue Holiday beim Cut, um ein Anspiel unter den Korb zu unterbinden, hilft dann beim Drive vom menschlichen Güterzug Antetokounmpo und stört schließlich entscheidend beim Dreierversuch von Bobby Portis. Weil dieser Ansatz öfter klappt als nicht, stellen die Cavaliers die drittbeste Verteidigung der Liga, nachdem man im vergangenen Jahr noch Platz 25 belegte.
Das liegt natürlich nicht nur an Mobley, sondern unter anderem auch an Center Jarrett Allen, der in diesem Jahr ein absolutes Monster unterm Korb ist und an Isaac Okoro, der die gegnerischen Playmaker um die Dreierlinie jagt und gefühlt an jedem Screen vorbeirutschen kann. Und vorne? Da helfen ein neu-motivierter Bankspieler Kevin Love und vor allem Aufbauspieler Darius Garland, der in seinem dritten Profijahr einen enormen Sprung gemacht hat und der zumeist die ganz schwierigen Würfe und Pässe aufs Parkett zaubert, um auf seine durchschnittlich 20 Punkte und 8 Assists zu kommen. Für Garland reichte das schon jetzt für einen persönlichen Erfolg: Er wurde erstmals für das Allstar-Game am 20. Februar nominiert. Ob es für Cleveland reicht für einen tiefen Playoff-Lauf wird sich zwei Monate später zeigen. Fest steht, dass der junge Haufen aus Cleveland heiß darauf ist, endlich LeBron-freie Cavalier-Geschichte zu schreiben.
Stecktabelle
Zum guter Letzt noch meine Prognose für die Abschlusstabelle: Das größte Fragezeichen sind meiner Meinung nach die Raptoren aus dem kalten Norden, die mit Aufbauspieler Fred VanVleet ihre ganz eigene Allstar-Überraschung feiern. An der Defense sollten bei der Mannschaft, die im Prinzip nur aus langen Armen und Beinen besteht, keine Zweifel aufkommen. Doch in der jüngsten Siegesserie hat man auch davon profitiert, dass Gary Trent Jr. auf Kernschmelze-Temperatur heiß gelaufen ist – Abkühlung vorprogrammiert. Platz 9 ist vielleicht dann doch etwas zu pessimistisch prophezeit, aber man muss ja auch mal was wagen.
Wie immer kann auch der drohende Wirbel durch das Freitag ablaufende Transferfenster einiges an den Machtverhältnissen in der Liga verschieben. Gehen die Cavaliers all-in? Wird Philadelphia Ben Simmons endlich los und erhält dafür einen (oder mehrere) Spieler, die auch tatsächlich professionellen Basketball spielen? Und was zur Hölle ist in Brooklyn der Plan mit Teilzeit-Spieler und Vollzeit-Clown Kyrie Irving? Es bleibt spannend.