Die Pre-Season ist der Spiegel zur Seele, sagt man. In den (mal mehr, mal weniger ernst genommenen) Vorbereitungsspielen erkennt der emotional-verunsicherte Fan meistens genau das, was er erkennen will. Optimisten, die es mit den Dallas Mavericks halten, werden nach der ungeschlagenen Pre-Season, in der die Mavs ligaweit durchschnittlich die meisten Punkte, Rebounds und Assists verbuchten, schon mal Urlaub für Juni einreichen. Pessimisten, die die Lila-und-Gold-Brille tragen, werden schwarz sehen für die kommenden 82 Spiele, nachdem die Lakers ihrem Alter entsprechend aussahen und alle sechs Pre-Season-Spiele verloren.
Doch noch spannender sind die Eindrücke und Gefühle, die uns das Basketball-Universum aufzwingt. Die wir eigentlich gar nicht wollen aber uns nicht wehren können, weil Pre-Season die Zeit ist, in der alles möglich ist und wir doch einfach mal wieder an etwas ganz feste glauben wollen. Manchmal betrügt uns dieses Gefühl auf hinterhältige Art und Weise, wie ein Blick in mein Immobilienportfolio zeigt, in dem nach wie vor die Kevin-Knox-Insel aufgeführt ist, die ich mittlerweile ziemlich alleine bewohne. Und doch sind Basketball-Fans vor allem Träumer, weshalb auch mich in dieser Vorbereitungszeit wieder einige Rookies und jüngere Spieler überzeugt haben, emotional all-in zu gehen, damit ich später auf den Tisch hauen und brüllen kann: “Ich hab’s euch ja gesagt!”
In einem Spiel, von dem ich ausgehen muss, dass die Oklahoma City Thunder einen Großteil der Videoaufnahmen gelöscht haben, um zu verheimlichen, dass Aleksej Pokusevski in der Off-Season scheinbar zu Magic Johnson in Topform geworden ist, legte auch Rookie Josh Giddey in nur 28 Minuten beeindruckende 13 Punkte, 9 Rebounds und 8 Assists aufs Parkett. Doch auch ohne Bildmaterial lässt sich erahnen, dass der Australier den guten Eindruck aus den anderen drei Vorbereitungsspielen bestätigt hat.
Der 19-Jährige gehört mit seinen 2,03 Metern zur modernen Gattung großer Aufbauspieler, der über die Defense hinwegsehen und -passen kann oder mit physischem Spiel kleinere Verteidiger in Matchup-Probleme bringt. Die Mischung aus unbekümmertem Scoring und akkuraten und kreativen Pässen macht Giddey sofort zu jemandem, dem man bereitwillig die Daumen drückt. (Ich mein, was lieben wir Deutschen mehr als Akkuratesse?) Die Thunder werden in dieser Saison mit voller Absicht schlecht sein – vor allem, wenn sie erneut die Spielzeit ihres jungen Stars Shai Gilgeous-Alexander limitieren – aber mit Giddey und Hokus-Pokusevski wird es sicherlich nicht langweilig.
Langweilig wird es auch nicht, Davion Mitchell dabei zuzugucken, wie er gegnerische Spieler solange belästigt, bis sie scheinbar freiwillig den Ball abgeben. Wie oft guckt man sich schon Defensiv-Highlights eines Rookies aus der Pre-Season an? Und wie oft hat man beim Angucken eine Art Proxy-Angstzustände und gleichzeitig Bewunderung für eine Leichtfüßigkeit, die einem Stepptänzer gleichkommt? Die Kings, die Mitchell an neunter Position im diesjährigen Draft auswählten, können die Intensität des 23-Jährigen sehr gut gebrauchen: Sacramento stellte in der vergangenen Saison mit deutlichem Abstand die schlechteste Defense der Liga. Zusammen mit Sophomore Tyrese Haliburton wird Mitchell versuchen, (dem kriminell unbeachteten) De’Aaron Fox den Rücken freizuhalten.
Für die Kings wird es schwer, die Playoffs zu erreichen, aber Intensität und Einsatz sind oft ansteckend … So oder so: Mitchell dabei zuzugucken, wie er Gegner einfach auffrisst, wird eine befriedigende und Saison-füllende Beschäftigung – und sein Defense-Highlight-Tape wird am Ende sicherlich länger als 2:45 Minuten.
Bei der Erwähnung des Wortes “Defense” kann man, wenn man ganz still ist, das zufriedene Kichern aus Toronto hören. Dort regiert Coach Nick Nurse, der wahrscheinlich wie ein verrückter Professor in seinem Labor steht und sich komplexe und unkonventionelle Verteidigungs-Schemata ausdenkt. Mit Scottie Barnes haben Nurse und sein Trainerstab im diesjährigen Draft eine weitere Waffe dazugewonnen. Man muss sich nur angucken, wie der 20-Jährige ins Strahlen kommt, wenn er darüber redet, wie sein Uni-Team in der Pick’n’Roll-Verteidigung alles geswitcht hat – also er als Aufbauspieler auch mal mit dem gegnerischen Center ringen durfte – um zu verstehen, dass sich hier die sprichwörtlichen Arsch und Eimer gefunden haben. Barnes bringt aber nicht nur Defense aufs Parkett: In der Pre-Season sammelte er in fünf Spielen 28 Assists.
Um sein Playmaking zu maximieren und nicht nur bei Tempogegenstößen gefährlich zu sein, muss der 20-Jährige noch hart an einem brauchbaren Sprungwurf oder Post-Moves arbeiten. Doch wer so intensiv verteidigt, im Umschaltspiel so optimistisch bergab donnert und so bereitwillig den Ball verteilt, der wird nicht nur bei den Mitspielern beliebt, sondern auch bei Zuschauern wie mir. Die Raptors waren sich mit Barnes immerhin so sicher, dass sie ihn an Position 4 im Draft dem eigentlich dort projizierten Jalen Suggs vorzogen. Macht Scottie Barnes über 82 Spiele so viel Spaß wie in der Pre-Season, kann er vielleicht am Ende auch noch an den Picks Eins, Zwei und Drei vorbeiziehen – im Rennen um den Rookie of the Year.
Weil es sich billig anfühlt, nur bei Rookies aus den Top 10 zu sagen, dass sie Spaß machen werden, hier noch ein menschliches Ausrufezeichen außerhalb der Lotterie: Trey Murphy III., an Position 17 von den New Orleans Pelicans gedraftet, verwandelte in vier Pre-Season-Spielen beeindruckende 17 seiner 32 Dreier. Neben dem Distanzwurf machte vielversprechende Defense die andere Hälfte des Reizes seines Scoutingprofils aus. Dazu an dieser Stelle ein scheinbar willkürlicher Fakt über die Pelicans: Sie belegten in der vergangenen Saison Platz 26 (von 30) im Dreierquote-Ranking und Platz 23 im Defensive Rating. Will man in der NBA Erfolg, sollte man sich nicht zu sehr auf Rookies verlassen. Aber: Wenn Zion Williamson und Co. endlich Post-Season-Luft schnuppern wollen, wird Trey Murphy der Dritte seinen Teil dazu beitragen.
Während die Rookies heiß darauf sind, einen guten ersten Eindruck zu machen, gibt es eine handvoll junger Spieler, die den ersten (oder zweiten) Eindruck verbessern wollen – und dafür zumindest in den Vorbereitungsspielen schon einiges getan haben. Tyler Herro hat als Rookie mit durchschnittlich 33,6 Minuten Spielzeit einen gehörigen Anteil daran gehabt, dass die Miami Heat in die 2020-Finals einzogen. Er fungierte in einem Team, das zuallererst über seine Defensiv-Identität kam, als offensives Chaos-Element und überraschte als Shooter aus dem Stand oder aus dem Dribbel genauso wie mit furchtlosen Zug zum Korb. Auch wenn Herro in NBA-Jahr 2 eher Stillstand als Fortschritt zu verbuchen hatte: der mediale Abgesang auf sein Star-Potenzial war sicher übertrieben.
Das dachte sich der 21-Jährige wahrscheinlich auch und sammelte als ausgeübte Gegendarstellung in vier der fünf Pre-Season-Spiele jeweils 26, 24, 26 und 29 Punkte für die er 58,5% seiner 65 Würfe traf. Doch je besser der Wurf fällt, desto aufmerksamer die Defense. Umso zufriedener wird Miami-Coach Erik Spoelstra mit Herros Passspiel und Entscheidungsfindung zum Pre-Season-Abschluss gegen Boston gewesen sein, als er als Ballführender im Pick and Roll immer den richtigen Mitspieler fand. Wenn Herro neben Chaos auch kontrollierte Offensive einbringen und damit Jimmy Butler entlasten kann, wird mit den Heat selbst im starken Osten zu rechnen sein müssen.
Zu rechnen wird auch damit sein, dass Jordan Poole einen weiteren Schritt nach vorne macht. Wie viel von Pooles horrender Rookie-Saison – der als Offensiv-Allrounder gedraftete Amerikaner traf nur ein Drittel seiner Würfe – seinen mangelnden Qualitäten zuzusprechen war und wie viel Einfluss der dysfunktionale Zustand der 19/20-Warriors hatte, lässt sich nicht mehr entwirren. In seiner Sophomore-Saison verbesserte sich Poole, blieb aber weiterhin hinter den Erwartungen zurück: Zwar traf er fantastische 70% seiner Würfe am Korb und schloss hervorragende 52,5% seiner Drives erfolgreich ab, doch Dreierwürfe, die nicht aus den Ecken kamen, wollten nach wie vor nicht fallen (31,3%).
Wichtig für den 22-Jährigen und die Warriors war jedoch die deutliche Leistungssteigerung zum Ende der Saison (mit 45% getroffener Dreier in den letzten fünf Spielen), und auch in den beiden Play-In-Spielen am Ende der Saison, zeigte sich Poole treffsicher und sicher kein Grund dafür, dass es für die Playoffs schlussendlich nicht reichte. Kein Wunder also, dass die Coach Steve Kerr und sein Team ihn zu Beginn des Trainingscamps als aussichtsreichen Kandidaten für den Startplatz an Steph Currys Seite sahen – zumindest solange bis Klay Thompson wieder bei voller Stärke aufs Parkett zurückkehrt. Aus “aussichtsreich” wurde spätestens dann “sicher”, als Poole den Trailblazers zum Pre-Season-Auftakt sieben Dreier und insgesamt 30 Punkte einschenkte. Teilweise wurde da sogar aus Curry-Reichweite gebombt, womit sich Poole zumindest als angeheirateter Splash-Cousin in die Curry-Thompson-Familie einfügen könnte. Sollte Klay zu spät oder als Schatten seiner selbst zurückkehren, würde viel von Golden States Erfolg von Jordan Poole abhängen. Und der 22-Jährige könnte persönlichen Erfolg im Rennen um den “Most improved Player”-Award feiern.
Über Erfolg denkt man in Orlando derzeit gar nicht nach. Nachdem man in der vergangenen Saison Nikola Vucevic und Aaron Gordon tradete, befindet man sich tief im Wiederaufbau eines erfolgreichen Kaders. Auch wenn aktuell noch der Spieler mit dem Franchise-verändernden Superstarpotenzial fehlt: Mit Jonathan Isaac, Chuma Okeke, Markelle Fultz, Cole Anthony, Wendell Carter Jr., Jalen Suggs, dem Deutschen Franz Wagner und R.J. Hampton hat man dabei einen ganzen Haufen vielversprechender Spieler unter 25 Jahren. Viel versprochen haben sich die Magic (und Rapper Sheck Wes) auch von Mo Bamba, ihrem 2018 an sechster Stelle gedrafteten Center, der als 7-Footer (2,13m) hinten den Korb beschützen und vorne das Spielfeld bis an die Dreierlinie ausdehnen sollte.
In seinen ersten drei Saisons klappte letzteres unterdurchschnittlich bis schlecht (30%, 34,6% und 32,2%) und während seine Blockrate jederzeit zur absoluten Ligaspitze gehörte, wurde schnell klar, dass er in allen anderen Bereichen der Defensive nicht den Herausforderungen der modernen NBA-Offensive standhalten konnte – vor allem in der Pick-and-Roll-Verteidigung befand sich Bamba oft körperlich und gedanklich auf verlorenem Posten. Fairerweise muss man erwähnen, dass die Magic in den letzten Jahren mit Allstar-Center Vucevic ihre Stammbesetzung an den Brettern schon im Kader hatten und es auf der Jagd nach Siegen keinen Raum für das “Projekt Bamba” gab. Das ändert sich nun: Die Center-Position ist nach Vucevics Abgang bereit erobert zu werden und teure Lernerfahrungen (und damit verbundene Niederlagen) sind mit Blick auf die nächste Draft-Reihenfolge alles andere als verboten.
Nimmt man die Pre-Season als Indikator (was wir hier zum Wohle dieses Textes zu einhundert Prozent tun), hat Bamba diesen Konkurrenzkampf angenommen und will die nächsten 82 Spiele nutzen, der sportlichen Führung der Magic zu beweisen, dass sie im nächsten Draft keinen Center auswählen müssen. In vier Spielen blockte er durchschnittlich absurde 3,8 Würfe. Okay okay, das mit den Blocks wussten wir. Ermutigend war jedoch, wie clever Bamba seine enorme Spannweite einsetzte, als er gegen kleine, schnelle Guards auf dem Weg zum Korb ins Hintertreffen geriet. Positionierung, Kommunikation, Körperkontrolle und schnelle Entscheidungsfindung sind Grundlagen der traditionellen Pick-and-Roll-Verteidigung und Bamba zeigte sich hier deutlich verbessert.
Offensiv spielte Bamba eine verständlicherweise kleinere Rolle, war jedoch bereit, wenn es drauf ankam: Er traf 7 seiner 9 Würfe am Korb, 5 seiner 8 Würfe aus der Mitteldistanz und 5 seiner 12 Würfe von jenseits der Dreierlinie – allesamt gute bis sehr gute Quoten in dieser (zugegebenermaßen kleinen) Stichprobe. In näherer Korb-Umgebung fiel der Wurf dagegen noch nicht; in Teilen wirkte der 23-Jährige noch nicht zielstrebig genug und spielte kleiner als seine Körpermaße es zuließen. Doch wenn Bamba endlich von Verletzungen verschont bleibt und den neuen Raum ausnutzt, den ihm Orlando bietet, dann kann er zu einer großen Überraschung dieser Saison werden – und sich als Center der Zukunft empfehlen.
Die Magic würden sich über eine Baustelle weniger freuen und als Zuschauer sind Comeback-Geschichten wie die von Tyler Herro, Jordan Poole und Mo Bamba gefundenes Fressen am Narrativ-Buffet der NBA. Auch den Neulingen drückt man natürlich die Daumen – auch, wenn sie am Ende nicht alles von dem einhalten können, das sich phantasievolle Fans aufgrund einiger Pre-Season-Highlights ausmalen …
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