Richtig glücklich wird die sportliche Führung der Chicago Bulls nicht gewesen sein, als im diesjährigen Draft der Deutsche Franz Wagner ausgewählt wurde. An Position 8 ging Wagner zu den Orlando Magic – mit einem Pick, den Chicago ein paar Monate zuvor im Zuge des Vučević-Trades nach Florida geschickt hatte. Die Marschroute des neuen Vizepräsidenten für Basketballbelange, Arturas Karnisovas, ist seit diesem Deal (bei dem Chicago auch einen Erstrunden-Pick im 2023er Draft verschiffte) klar: Erfolg im Hier und Jetzt, statt bauen auf die Zukunft.
Kurzfristig blieb der Erfolg jedoch aus. Nach der Verpflichtung von Nikola Vučević gewann man nur 12 von 29 Spielen, am Ende belegte man einen enttäuschenden elften Platz in der Eastern Conference. Vor allem offensiv fehlten den Bullen die Hörner: Beim Offensiv-Rating fand man sich mit Platz 21 im unteren Drittel der Liga wieder. Das mitt-saisonale Durcheinanderwürfeln des Kaders und erhebliches Verletzungspech werden hier sicherlich abseits des Spielfeldes eine Rolle gespielt haben. Mit Tomáš Satoranský, Garrett Temple, Lauri Markkanen, Otto Porter Jr. und vor allem Zach LaVine fielen gleich fünf Spieler mit durchschnittlich über 20 Minuten Einsatzzeit für längere Phasen der Saison aus.
Karnisovas machte deswegen schnell einen Haken an die Spielzeit 20/21 und arbeitete im Sommer lieber weiter am neuen Anstrich der Bulls. Im Zentrum stehen hier die Verpflichtungen von Point Guard Lonzo Ball und Flügelspieler DeMar DeRozan. Vor allem DeRozan wird die wichtige Aufgabe zukommen, den Bullen im Angriff den Dampf zurückzugeben. Wie gut DeRozans breite Pallette offensiver Werkzeuge die Problemfelder der Mannschaft abdeckt, ist dabei fast schon ein wenig gruselig: Die Bulls waren in der vergangenen Spielzeit die Mannschaft mit den wenigsten Freiwürfen (17,5 pro Spiel), der 32-Jährige allein ging im letzten Jahr 7,2 Mal pro Spiel an die Linie – der neuntgrößte Wert der Liga. Ebenfalls ganz unten dabei war Chicago bei den Ballverlusten (Platz 27 / 15,1 pro Spiel) während mit DeRozan jemand kommt, der beim ligaweiten Vergleich vom Verhältnis “Assist zu Turnover” auf Platz 5 liegt (3,55 AST/TO)
Dass DeRozan eine gehörige Portion des Ballvortrags übernimmt, bedeutet auch, dass Zach LaVine das Leder seltener in der Hand hält. Dadurch wird der 26-Jährige nicht nur die Anzahl seiner Turnover reduzieren (3,5 pro Spiel in der vergangenen Saison), sondern seine enormen Stärken abseits des Balls unterstreichen. LaVine ist ein hervorragender Cutter, kann mit seiner Athletik Offensivrebounds sichern oder Zweitchancen verwerten. Und vor allem: Mit 48,6 Prozent Trefferquote ist LaVine einer der besten Dreierschützen der Liga, wenn er den Ball nur fangen und werfen muss. Der Albtraum für gegnerische Teams ist schnell geträumt: Ein hohes Pick ‘n’ Roll zwischen DeRozan (der zum Korb ziehen, aus der Mitteldistanz werfen oder gezielt passen kann) und Vučević (der zum Korb ziehen, aus der Mitteldistanz oder von der Dreierlinie werfen kann), während der explosive LaVine auf dem Flügel lauert. Achja, mit Lonzo Ball und Patrick Williams stehen dann hinter der Dreierlinie noch zwei Spieler parat, die in der Kategorie Catch-and-Shoot ebenfalls Trefferquoten aufweisen, die eine enge Deckung ratsam erscheinen lassen (40,2% und 39,8%).
Für den nominellen Aufbauspieler und Neuzugang Lonzo Ball bedeutet das gegen sortierte Verteidigungen höchstwahrscheinlich eine kleinere Rolle. So wird auch nicht allzu schwer ins Gewicht fallen, dass Ball im Pick ‘n’ Roll – trotz leichter Verbesserungen im Vergleich zu seinen ersten drei Profi-Jahren – nach wie vor weitestgehend ungefährlich ist. Glänzen wird der 23-Jährige dagegen in den Tempogegenstößen: Als begnadeter Passer erkennt und nutzt er in Bruchteilen die sich bietenden Freiräume. Und auch wenn er Zion Williamson in New Orleans zurückgelassen hat, der als Schwarzes Loch rund um den Korb jedes Anspiel verwertet hat, wird er gemeinsam mit Über-Athlet Zach LaVine regelmäßig in den Top-10-Plays auftauchen.
Sehr viel mehr Verantwortung wird von Ball dagegen in der Defensive gefordert werden. Denn so gut DeRozan auch als Waffe in der Bulls-Offensive funktionieren kann, in der Verteidigung ist er vor allem für Mitspieler gefährlich. Lonzo Ball dagegen eilt ein Ruf als Defensivspezialist voraus, er wird sich um die gegnerischen Aufbauspieler kümmern. Auch Trainer Billy Donovan gilt als Defensiv-Zauberer: In vier seiner fünf Saison bei den Oklahoma City Thunder stellte er eine Top-10-Defense auf die Beine. Auch seine Debütsaison bei den Bulls lief in dieser Hinsicht positiv (12.) – alles andere als selbstverständlich mit einem Team, in dem Zach LaVine, Lauri Markannen, Coby White und Nikola Vučević viele Minuten auf dem Parkett standen …
Hat man in Chicago wirkliche Ambitionen auf einen (tiefen) Playoff-Lauf, dann sollte sich die Defense trotz wahrscheinlich stark verbesserter Offense nicht dramatisch verschlechtern – kein leichtes Unterfangen, nachdem man mit Daniel Theis und vor allem Thad Young zentrale Spieler verloren hat. Ball muss seine Verteidigung auf ein konstant hohes Niveau bringen, nachdem er bei den Pelikanen eher mit Leistungsschwankungen auffiel. LaVine muss seine positiven Schlaglichter der vergangenen Saison ausbauen, vor allem bei der Hilfe unterm Korb deutete er erhebliche Verbesserungen an – in der Manndeckung wird man die Hoffnung auf spürbare Fortschritte dagegen wohl langsam aufgeben müssen. Vor allem gegen bewegliche Guards sah der athletische LaVine in der vergangenen Saison plötzlich außerordentlich hüftsteif aus. Wenn man DeRozan in der Verteidigung versteckt und bei Vucci Mane von einem Erfolg spricht, wenn er unterm Strich bei Plus-Minus-Null steht, wird schnell deutlich, dass defensiv verdammt viel davon abhängt, wie Patrick Williams in seinem zweiten Profijahr performt.
In seiner Rookie-Saison hat der Nummer-Vier-Pick in Ansätzen schon so ziemlich alles gezeigt, was die Bulls sich von ihm versprochen haben. Nicht umsonst wird Williams schon “The Paw”, also die Pranke genannt – in Anlehnung an Kawhi Leonards riesige Hände, die ihm den Spitznamen “The Claw” einbrachten.
Doch auch P-Will hat schon so einige Defensiv-Highlights im Portfolio. Im ersten Clip gibt er gegen die offensive Dampfwalze #1 Zion zwar etwas unnötig den Weg zum Korb frei, bleibt aber dicht am Körper und hat dann genau das richtige Timing (und die Athletik) für den Block. Im zweiten Clip übergibt Williams zunächst #00 Clarkson an Coby White. #15 Favors bricht dann den geplanten Flare Screen ab, als er sieht, dass Williams die Verteidigung aufgibt und zieht stattdessen zum Korb. Williams macht in dem Moment einen unnötigen Schritt raus an die Dreierlinie, bleibt aber im Play und kriegt seine Hände noch zwischen Ball und Mann. In den letzten drei Clips kommt “die Pranke” dann fehlerfrei daher: Zunächst verdaddelt Arcidiacono den Switch, weswegen White quer über den Court rennen muss, um #19 Mykhailiuk wieder aufzunehmen. Der versucht die Unsortiertheit mit einem Zug zum Korb auszunutzen, doch Williams setzt genau im richtigen Moment zum “tag” an, also dem Behindern des gegnerischen Spielers, während der eigene Mann nicht vollständig aufgegeben wird. Als Mykhailiuk den Ball aufnimmt, springt und sich damit selbst die Optionen limitiert, ist Williams schon wieder auf dem Weg zurück zu seinem Gegenspieler, um den Pass abzufangen. Im vierten Clip glänzt der 20-Jährige mit “Let’s Dance”-reifer Leichtfüßigkeit bei der Mann-Verteidigung gegen #45 Donovan Mitchell, bleibt immer zwischen Korb und Gegner und zwingt ihn so zu einem schwierigen Wurf. Und zuletzt navigiert Williams stark den Screen von #22 Ayton und orientiert sich, als er sieht, dass Vučević sich auf #1 Booker als Gegenspieler festlegt, wieder in Richtung des rollenden Big Man. Bookers Pass ist suboptimal aber das soll nicht davon ablenken, dass der Rookie hier ein fettes defensives Ausrufezeichen setzt – den räumen in der Form nicht viele in der Liga ab.
Zusätzlich beeindruckend ist die Flexibilität: Allein in diesen fünf Clips hat Williams den 1,85m-Geschwindigkeitsdämon Mitchell, den 2,01m-Flummi Zion und den 2,11m-Hünen Ayton verteidigt. Generell machte es in der vergangenen Saison den Eindruck, als muteten die Trainer dem Rookie eine 71 Spiele dauernde Feuertaufe zu: Auf der Liste mit Spielern, die Williams am meisten verteidigte, finden sich Namen wie Kawhi Leonard (am drittlängsten verteidigt), LeBron James (4.), Jimmy Butler (10.), Donovan Mitchell (14.) oder Kevin Durant (15.) wieder. Rookies erzählen oft von ihrem einen “Welcome to the NBA”-Moment; für Williams wird der bei solchen Defensivaufgaben ungefähr von Dezember bis April gedauert haben.
So überrascht es auch nicht wahnsinnig, dass die erweiterten defensiven Statistiken des gerade 20-Jährigen (!) nicht berauschend sind. Auch für Rookies mit guten körperlichen Voraussetzungen und einem defensiven Mindset ist die erste Profisaison meistens voller schmerzhafter Lernerfahrungen: Man muss sich selbst in einer Vielzahl neuer Verteidigungsschemata zurechtfinden, während die Gegner schneller, stärker und treffsicherer sind als im College. Gerade das Tempo des Spiels sorgt dafür, dass Neulinge oft den Sekundenbruchteil zu spät sind (im Kopf und in den Füßen) und sich direkt in einer aussichtslosen Verteidigungsposition befinden. Das führt dazu, dass Rookies notorisch dafür sind, massig Fouls zu sammeln. Dass Williams pro Spiel weniger als 2 Fouls beging, spricht auch hier wieder für sein gutes Verständnis für Verteidigung und auch die vergleichsweise hohen Block- und Steal-Raten zeigen, dass “die Pranke” dabei keineswegs den körperlosen Ansatz gewählt hat.
Will Chicago in der kommenden Saison Erfolg, muss Williams zum defensiven Anker werden. Das bedeutet, er muss die guten Ansätze bestätigen und ausbauen, sowohl was Mann- als auch Hilfsverteidigung angeht. Die Energie sollte er dafür freilich haben, wenn man bedenkt, dass er in einer Starting Five mit Ball, LaVine, DeRozan und Vučević wahrscheinlich Offensiv-Option Nummer Fünf ist. Auch wenn Billy Donovan eine bewegungsintensive Offense mit vielen Pässen auf den Court bringt: Tatsächlich abschließen wird Williams zumeist als Spot-Up-Shooter hinter der Dreierlinie. Sicher ist aber auch, dass diese fünf Spieler nicht immer gemeinsam auf dem Parkett stehen werden. Denn auf der Bank tummeln sich vor allem Spieler mit defensiven Stärken (vor allem Alex Caruso, dessen Bedeutung für die Bulls in diesem Text dramatisch unterrepräsentiert ist), die offensiv maximal als eindimensional bezeichnet werden können. Gerade die Minuten von DeRozan und LaVine werden während der langen Regular Season wahrscheinlich öfter gestaffelt, sodass immer zumindest ein Spieler auf dem Feld steht, der Räume schaffen und für sich und andere leichte Würfe findet. Coach Donovan ist kein Freund von Isolation-Spielzügen aber mit DeRozan und LaVine hat er die zweit- und dritt-effektivsten Iso-Spieler der Liga im Kader (1,2 Punkte pro Play / 1,14 PPP; von Spielern mit mindestens 1 Iso-Play pro Game) – ein verlässliches Sicherheitsnetz. Und dass Patrick Williams neben dem Dreipunkte-Wurf nicht völlig talentfrei im Angriff ist, hat er zuletzt in der Summer League unter Beweis gestellt.
Allstars in der Offensive, viel Defensiv-Verantwortung auf den Schultern eines 20-Jährigen, eine schmale Bankbesetzung, ein guter Coach … Wie weit trägt einen dieser Mix in einem wiedererstarkten Osten? Milwaukee, Brooklyn, Philly, Boston, Miami, Atlanta, New York, Charlotte, Washington, Indiana, Toronto: Das Feld der ernsthaften Anwärter auf die acht (echten) Playoff-Plätze ist dicht. Läuft in der Saison 21/22 wirklich alles glatt in der windigen Stadt, könnte ein Run, wie ihn die Knicks und Hawks vergangenes Jahr hatten, die Bulls vielleicht auf Platz 4 oder 5 führen. Dass man sich dann eventuell schon mit einem Erstrunden-Aus beschäftigen muss, liegt vor allem an der starken Konkurrenz, von der sich nicht wenige sogar Chancen auf den Meisterschafts-Ring ausrechnen. Läuft man heiß und zieht ins östliche Halbfinale ein, bedeutet das, dass die Chicagos Stars ihre jeweiligen Schwächen erfolgreich untereinander kaschiert haben. Dann trifft man wahrscheinlich auf die Nets oder Bucks – und damit auf Kader, die kaum Schwächen haben. Spätestens dann ist auch bei aller Schönmalerei Schluss. Für die ausgehungerten Bullen wäre das aber schon ein riesiger Erfolg.